Professor der Jade Hochschule erstellt Wirtschaftsgutachten für Klageverfahren vor dem EuGH

Clemens Schramm, Professor für Planungs- und Baumanagement am Fachbereich Architektur, beriet Kammern und Verbände zum Klageverfahren der Europäischen Kommission gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof. Im Gespräch mit der Jade Welt erklärt Schramm, was es damit auf sich hat.

JW: Architektinnen und Ingenieure berechnen ihre Planungshonorare auf Grundlage der „Honorarordnung für Architekten und Ingenieure“ (HOAI). Was genau besagt diese Ordnung?

Schramm: Gebühren- bzw. Honorarordnungen für planende Berufe haben eine lange Tradition. Es gibt sie bereits seit Mitte des 19. Jahrhundert. Die aktuelle Fassung datiert aus dem Jahre 2013. Das vom Architekten oder Ingenieur zu erzielende Honorar ist auf Grundlage der Baukosten zu ermitteln. Die HOAI gilt zwingend nicht nur für Architekt_innen und Ingenieur_innen, sondern für alle Leistungen, für die in der HOAI ein Honorar verbindlich geregelt ist. D. h. die HOAI gilt nicht berufsbezogen, sondern leistungsbezogen. Mit anderen Worten: auch ein Nichtarchitekt oder Nichtingenieur, der z.B. die Bauüberwachung übernimmt, ist an die HOAI gebunden. Wichtig ist, dass die HOAI nur für Planungsleistungen gilt, die im Inland erbracht werden (sog. Inländer-HOAI).

Bei ihrer Einführung 1977 durch das Bundeswirtschaftsministerium enthielt die HOAI Bestimmungen zu den Leistungen und Honoraren z.B. für Architektur, Freianlagen sowie Innenarchitektur, Städtebau und Tragwerksplanung. Später wurden auch die Leistungen und Honorare für Ingenieurbauwerke, Verkehrsanlagen und -planung sowie Haustechnik und weitere Fachplanungen in die HOAI eingefügt.

Bei den vorgenannten Leistungsbildern sind die Bestimmungen der HOAI zwingend einzuhalten. Ein Verstoß führt zu keinen strafrechtlichen Konsequenzen (z. B. Gefängnis), kann aber berufsrechtliche Folgen bis zum Ausschluss aus der Architektenkammer nach sich ziehen. Zu beachten ist, dass das bindende Preisrecht nur innerhalb der jeweiligen Grenzen der Honorartafelwerte greift. Bei Architekten beispielsweise sind daher alle Honorare mit sogenannten anrechenbaren Kosten in Höhe von 25.000 Euro bis 25.000.000 Euro verbindlich nach der HOAI zu ermitteln. Um ein Zahlenbeispiel zu nennen: Bei einem kleineren Einfamilienhaus mit Kosten von 300.000 Euro beträgt das Architektenhonorar zwischen etwa 40.000 bis 50.000 Euro. Nur innerhalb dieser Honorarspanne ist das Honorar frei verhandelbar.

JW: Die Europäische Kommission hat Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagt und verlangt die Mindest- und Höchstsätze der HOAI abzuschaffen. Warum genau will sie dies tun?

Schramm: Das aktuelle, formal gegen die Bundesregierung gerichtete Verfahren läuft seit Sommer 2015 und führte im Juli 2017 zur Klageerhebung. Die Europäische Kommission wirft Deutschland vor, eine Verletzung der europäischen Verträge durch Aufrechterhaltung der HOAI begangen zu haben. Konkret wird beanstandet, dass die sogenannte Dienstleistungs- und auch Niederlassungsfreiheit durch die verbindlichen Honorare verletzt werden. Mit anderen Worten: Ausländische Planungsbüros sind nach Ansicht der Kommission daran gehindert, in Deutschland zu Honoraren vor allem unterhalb, aber auch oberhalb der vorgegebenen Honorare zu arbeiten. Daher sei der Zugang auf den deutschen Planungsmarkt für Architekten und Ingenieure aus der EU nicht gewährleistet. Und diese Freizügigkeit ist eines der wichtigsten Prinzipien der Europäischen Union.

Einschränkende Regelungen sind nach europäischem Recht nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Die Kernfrage lautet konkret, ob und inwieweit verbindlich festgeschriebene Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen in Deutschland zu einem qualitätvollen Planen (und Bauen) beitragen können. Die Bundesregierung hat die HOAI in diesem Sinne gegenüber der Europäischen Kommission verteidigt. Sie hat auf die aus ihrer Sicht gegebene Vereinbarkeit der verbindlichen Mindest- und Höchstsätze mit dem EU-Recht hingewiesen. Kammern und Verbände der Architekten und Ingenieure haben in Unterstützung dieser Argumentation neben einem Rechtsgutachten auch ein Wirtschaftsgutachten zum Zusammenhang von Honorarhöhe und Leistungsqualität beauftragt.

JW: Wie stehen Sie dazu?

Schramm: Dieses von mir erstellte Wirtschaftsgutachten kommt zu dem Schluss, dass die verbindlichen Honorare der HOAI aus sachverständiger, wirtschaftlicher Sicht unter den besonderen Bedingungen des deutschen Planungsmarkts notwendig und sachgerecht sind. Bindende Mindest- und Höchstsätze für Architekten- und Ingenieurleistungen fördern nicht nur die interne, zwischen den Vertragsparteien zu vereinbarende Qualität, sondern ermöglichen auch die Erfüllung des externen, auf das Gemeinwohl beziehungsweise Allgemeininteresse gerichteten Qualitätsanspruchs wie Baukultur, Sicherheits- und Gesundheitsaspekte beziehungsweise der Nutzenanforderungen (beispielsweise Lebenszykluskosten und Nachhaltigkeit). Das klingt zunächst ein wenig abstrakt und doch kann sich jeder vorstellen: Zu niedrige Honorare führen potentiell zu einem Qualitätsverlust, weil die Zeit fehlt, sich ausreichend mit der Planung zu befassen.

JW: Gestern hat sich der EuGH geäußert. Wie bewerten Sie das Urteil?

Schramm: Leider ist der EuGH der Auffassung der deutschen Seite letztlich nicht gefolgt. Nach der mündlichen Verhandlung im November 2018 und vor allem dem ähnlich wie die Europäische Kommission argumentierenden Plädoyer des Generalanwalts im Februar 2019 war dies erwartet worden. Zwar erkennt das Gericht an - ich zitiere, „dass die Existenz von Mindestsätzen für die Planungsleistungen im Hinblick auf die Beschaffenheit des deutschen Marktes grundsätzlich dazu beitragen kann, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten“ und folgt damit den Ergebnissen meines Wirtschaftsgutachtens. Weil aber auch nicht fachlich geeignete Personen, nämlich nicht ausgebildete Architekten und Ingenieure, nach bisherigem deutschem Recht den Mindestpreisen der HOAI unterliegen, hält das Gericht die Bestimmungen der HOAI für nicht kohärent beziehungsweise inkonsequent. Das gesetzte Ziel, mit der HOAI die Qualität der Architekten- und Ingenieurleistungen zu fördern und zu sichern, sei so nicht zu erreichen. Mit diesem überraschenden, aber für die Urteilsfindung ausschlaggebenden Argument war allgemein nicht gerechnet worden.

Das Urteil wird tiefgreifende Auswirkungen auf die Berufsausübung von Architekten und Ingenieuren in Deutschland haben. Auf die Kammern und Verbände kommt viel Aufklärungsarbeit zu. Angesichts der derzeitigen guten Baukonjunktur und der damit verbundenen starken Nachfrage an Planungsleistungen wird der Druck auf die zu erzielenden Honorare momentan noch nicht so groß ausfallen. Mit der Zeit aber werden Bauherren die Architekten und Ingenieure vermehrt dazu auffordern, sich dem Preiswettbewerb zu unterwerfen. Ob man diesen Trend durch Honorarempfehlungen oder verpflichtende Honorarrahmen für die öffentliche Hand aufhalten kann, bleibt abzuwarten. Auch wenn alle Experten sicherlich weiterhin die HOAI in der Schublade haben, werden sich die Honorare stärker als bisher differenzieren. Gewinner werden die Planungsbüros sein, die zukünftige Auftraggeber von ihrer Fachkompetenz und Erfahrung beispielsweise in der Bauleitung oder für Spezialbauten überzeugen können. Für den ‚kleinen’ Verbraucher, den Einmal-im-Leben-Bauherrn ist positiv, dass empfehlende Preisorientierungen weiterhin zulässig sind, so dass sich die Vertragsparteien bei einer Honorarvereinbarung daran halten können.

Zwar wird man sich darüber hinaus auch an den in der HOAI formulierten Leistungsbildern und den sonstigen Bestimmungen orientieren können, aber für Neuverträge wird das Honorar künftig frei verhandelbar sein. Dies sind Planer in Deutschland bisher nicht gewohnt, man wird sie auf die veränderten Marktbedingungen vorbereiten müssen, etwa durch Fort- und Weiterbildungsangebote. Wir Professoren müssen bereits in der Lehre hier an der Jade Hochschule ansetzen. Viele Selbstverständlichkeiten werden künftig in Frage gestellt. Anders als bisher wird man mit dem Bauherrn im Vorwege viel mehr über die Leistungserwartung und das Honorarversprechen reden müssen. Ein weiteres Beispiel: das Building Information Modeling (BIM) wird den Planungsablauf in absehbarer Zeit enorm verändern, weil sich die verschiedenen beteiligten Planer frühzeitig miteinander abstimmen müssen. Das hat Auswirkungen auf das Leistungsbild der Architekten und Ingenieure, das modernisiert werden muss. Die zu erwartenden Effizienzsteigerungen werden sich auf die Honorierung auswirken bzw. vorrangig den Büros, die die Zeichen der Zeit erkennen, auch weiterhin auskömmliche Honorare ermöglichen.

Auch sogenannte Altverträge, also bis gestern geschlossene Architektenverträge, werden auf den Prüfstand gestellt. In Streitfällen kann sich der Planer nicht mehr wie bisher auf die verbindlichen Preise der HOAI berufen und muss daher die Höhe seiner Vergütung an dem Maßstab der Ortsüblichkeit orientieren. Dies ist in der Praxis nicht so einfach zu ermitteln wie bisher (es genügte sich auf die HOAI zu berufen), gerade dann, wenn eine schriftliche Vereinbarung zur Honorarhöhe nicht im Vorhinein getroffen wurde. Da wird neben anfänglicher Rechtsunsicherheit viel Arbeit auf die Gerichte zukommen.

Persönlich begleite ich die HOAI bereits seit vielen Jahren. Mein Forschungsschwerpunkt ist die wirtschaftliche Büroführung der Planer. Zur Zeit arbeite ich im Rahmen des hier an der Hochschule laufenden Forschungsvorhabens ‚Fokus Architekturbüro’ an einer Buchveröffentlichung zum Büromanagement. Die Umwälzungen, die sich aus dem zitierten Urteil ergeben, werden darin natürlich einfließen. Ich bin gespannt auf die nunmehr einsetzenden Diskussionen in Fachkreisen.

JW: Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person:

Nach seiner kaufmännischer Ausbildung und der Anstellung im Antiquariat Weinreb Architectural Books (London) absolvierte Clemens Schramm ab 1988 ein Studium der Architektur in Berlin und Paris, das er als Diplom-Ingenieur abschloss. Seit 1995 ist er als Sachverständiger zur Abrechnung im Bauwesen (insbesondere Nachtragsmanagement und Bauablaufstörungen) und Planerhonoraren/-leistungen tätig. Seit 1997 Beratungs- und Vortragstätigkeit für Bauherrn, Bauunternehmen und Planungsbüros. Von 2002 bis 2008 war er als Professor für Bauwirtschaft und Baubetrieb an der FH Hannover, Fachbereich Architektur und Bauingenieurwesen tätig. Seit 2008 ist Schramm Professor für Planungs- und Baumanagement an der Jade Hochschule im Fachbereich Architektur.

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